Land in Sicht: Warum Progressive Provinz jetzt Zukunft macht
- Katja Peteratzinger
- 19. Apr.
- 13 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Mai
»Innovation und Tradition schließen sich nicht aus – im Gegenteil: Das Konzept der Progressiven Provinz zeigt, wie aus dieser Kombination lebendige und erfolgreiche Regionen entstehen können.«
Eine Betrachtung von Katja Peteratzinger, Internationale Diplom-Betriebswirtin (FH) mit Schwerpunkt Marketing und Initiatorin der kollaborativen Initiative Powerregionen.de
Progressive Provinz: Die Renaissance des Ländlichen im digitalen Zeitalter
Was versteht man unter »Progressiver Provinz«?
Der Begriff »Progressive Provinz« wurde jüngst vom renommierten Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main (www.zukunftsinstitut.de) als einer der wichtigsten Megatrends der nächsten Jahre identifiziert. Das Konzept beschreibt einen tiefgreifenden Wandel, bei dem ländliche Regionen zu innovativen Vorreitern in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur avancieren – ein starkes Gegenmodell zur vermeintlichen Dominanz der Großstädte. Statt in der Vergangenheit zu verharren, nehmen progressive Provinzen den Wandel aktiv an und gestalten ihn mit. Hier treffen lokale Identität, Weltoffenheit und technologische Innovation aufeinander, wodurch der ländliche Raum nicht mehr als rückständig gilt, sondern vielmehr als Zukunftslabor mit starker Strahlkraft neu entdeckt wird (1). Es entsteht »eine neue Vitalität des Lokalen« (2).
Genau diese Entwicklung steckt als Vision auch in der kooperativen Powerregionen-Initiative, die mit dem Leitgedanken »Weil du deine Heimat liebst« regionale Besonderheiten sichtbar macht, Menschen vernetzt und das Potenzial ländlicher Räume durch innovatives Marketing und Storytelling hebt. Den roten Faden zu diesem Projekt bilden die Ansätze, die in den Megatrends »Progressive Provinz« und »Regionalität« stecken sowie die Vernetzung regionaler Akteure. Die Powerregionen-Initiative ist somit der Versuch der konkreten Umsetzung und zielt mittelfristig darauf ab, Heimat neu zu denken – lokal verankert, aber offen und zukunftsorientiert.
Das Zukunftsinstitut beschreibt, dass jeder große Trend einen Gegentrend hervorbringt (2). So folgt auf den anhaltenden Megatrend »Urbanisierung« nun eine neue Wertschätzung des Ländlichen. Während Städte lange als einzige Zentren von Fortschritt galten, erlebt das Land ein leises Comeback. Progressive Provinzen verstehen sich als Gegenmodell zur Landflucht: Nicht Abwanderung und Resignation, sondern Rückkehr und Erneuerung prägen diese Regionen. Entscheidend ist ein Mentalitätswandel: Manche ländlichen Gemeinden »verschlafen den Wandel«, andere hingegen nehmen ihn aktiv an (3). Letztere begreifen sich als »Zukunftsregion«, die offen für Veränderung ist und neue Wege erprobt.
Gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen in der Provinz
Ein Kernaspekt der progressiven Provinz sind gesellschaftliche Innovationen und eine neue Dorfkultur. Traditionell galt das Dorfleben als eng und wenig dynamisch – doch progressive Gemeinden beweisen das Gegenteil. Sie entwickeln eine »kooperative Wir-Kultur« anstelle von Fatalismus und Abwanderung (4). Die Bewohner solcher Orte zeigen ausgeprägtes bürgerschaftliches Engagement: Vereinsleben, freiwillige Feuerwehr und Nachbarschaftshilfe sind lebendig und stärken den sozialen Zusammenhalt. Dadurch lebt man auf dem Land häufig weniger anonym und einsam, sondern mehr gemeinsam (3).
Offenheit und Toleranz zeichnen progressive Provinzen aus. Anstatt Neuem mit Misstrauen zu begegnen, suchen sie aktiv den Austausch mit der Außenwelt. So entsteht eine kulturelle Urbanisierung des Dorfes: Impulse aus der Stadt – seien es neue Lebensstile, Kunst und Kultur oder Diversität – werden integriert, ohne die gewachsenen Traditionen zu verdrängen (2). Dieses Zusammenspiel von Bewahrung und Erneuerung macht den ländlichen Raum attraktiv für Rückkehrer und Zuzügler. Besonders junge Familien, Kreative und Start-ups zieht es verstärkt »raus aufs Land«. Interessanterweise hat eine Umfrage ergeben, dass selbst viele Jugendliche (14–19 Jahre) sich für ihr Leben mit 30 eher ein Dorf als Wohnort vorstellen können als eine Großstadt (3) – ein deutlicher Wertewandel gegenüber früheren Generationen.
Fünf Erfolgsfaktoren lassen sich laut Zukunftsforscher Daniel Dettling für progressive Provinzen ausmachen:
(A) Lokale Visionäre – engagierte Bürgermeisterinnen und Bürgereister, Bürgerinitiativen oder Unternehmerinnen und Unternehmer – entwickeln gemeinsam eine positive Vision für ihre Gemeinde.
(B) Eine ansprechende Gestaltung des Ortes und der Architektur trägt dazu bei, Lebensqualität zu schaffen (bis hin zu »Leuchtturm-Projekten«, die überregional Beachtung finden (3)(5).
(C) Offenheit nach außen ist essenziell: Kooperationen mit anderen Regionen oder Städten, Partnerschaften und die Einbindung externer Ideen bereichern die Provinz.
(D) Ein starkes eigenes Narrativ (Branding/Storytelling) gibt der Region eine unverwechselbare Identität – eine Geschichte, die man sich und anderen erzählt und die positiv nach außen strahlt (6).
(E) Schließlich braucht es regionales Selbstbewusstsein und Stolz auf die eigene Heimat (3). Wo diese Faktoren zusammenspielen, entstehen aus Dörfern echte »Resonanzräume« – Orte, an denen Gemeinschaft und Innovation sich gegenseitig verstärken.
Auch kulturell wird einiges geboten: Progressive Provinzen setzen auf kulturelle Vielfalt und Authentizität. Historische Traditionen und neue Kulturangebote gehen Hand in Hand. So ziehen z.B. Festivals, Kunstprojekte oder Kreativ-Netzwerke junge Leute an und beleben die Region. Ein Beispiel ist das Dorf Wacken in Schleswig-Holstein, das mit dem weltgrößten Heavy-Metal-Festival gezeigt hat, wie ein 1.800-Einwohner-Ort zum globalen Kulttreffpunkt werden kann – und die Dorfgemeinschaft stolz dahintersteht. Solche Geschichten – vom verschlafenen Nest zum »Place to be« – machen deutlich, welches Potenzial im Ländlichen steckt, wenn eine ganze Gemeinde offen und einfallsreich agiert.
Ein herausragendes Beispiel für die kulturelle Strahlkraft ländlicher Regionen ist das Rheingau Musik Festival. Seit seiner Gründung 1987 verwandelt es jedes Jahr den ländlich geprägten Rheingau in eine internationale Bühne. Über 170 Konzerte an traditionsreichen Orten wie dem Kloster Eberbach, Schloss Johannisberg oder Schloss Vollrads ziehen mehr als 120.000 Besucher:innen jährlich an. Die enge Verzahnung mit regionalen Weingütern und Betrieben stärkt nicht nur die Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Heimat, sondern macht den Rheingau zu einem Vorreiter für kulturell integrierte Regionalentwicklung im Sinne der progressiven Provinz. Hier wird erlebbar, wie ein ländlicher Raum durch Offenheit, Qualität und Identitätsbewusstsein zu einem kulturellen Hotspot mit internationalem Renommee wird.

Wirtschaftliche Entwicklungen und Chancen im ländlichen Raum
Oft wird übersehen, dass der ländliche Raum schon heute eine tragende wirtschaftliche Rolle spielt. Rund 60 % der deutschen Unternehmen haben ihren Sitz in der Provinz, viele davon mittelständische Weltmarktführer. In ländlichen Kreisen ist die Beschäftigung oft stabiler und die Arbeitslosenquote niedriger als in Großstädten. Diese »Hidden Champions« der Provinz bilden ein Rückgrat der Wirtschaft. Progressive Provinzen knüpfen daran an und fördern nachhaltige Wertschöpfung vor Ort. Dazu zählen etwa ökologische Landwirtschaft, regionale Lebensmittelproduktion, erneuerbare Energien und moderner Tourismus. So können Dörfer und Kleinstädte Vorreiter einer grünen Wirtschaft werden – beispielsweise als Bioenergiedörfer oder durch lokale Energiegemeinschaften, die Wind- und Solarstrom selbst erzeugen.
Ein weiteres wirtschaftliches Plus: Die Lebenshaltungskosten sind außerhalb der Metropolen deutlich geringer. Während Städter einen Großteil ihres Einkommens für teure Mieten aufbringen, wohnt man auf dem Land oft günstiger (7). Dies lockt vor allem Familien an, die mehr Platz für Kinder suchen und sich Wohneigentum leisten möchten. Viele Gemeinden werben aktiv um Zuzügler mit günstigem Bauland oder leerstehenden Hofstellen zur Revitalisierung. Arbeitskräfte werden in ländlichen Regionen händeringend gesucht – Zuzug kann also helfen, den Fachkräftemangel zu lindern und demografischen Abwärtstrends entgegenzuwirken (8).
Gleichzeitig erfinden sich auch traditionelle Sektoren neu. In einigen Regionen entstehen neue Unternehmenscluster: So ziehen etwa Teile des Alpenraums nicht nur wohlhabende Ruheständler an, sondern auch Start-ups und Kreativbetriebe. Ein Beispiel ist der Raum Kitzbühel–Kufstein in Tirol, wo innovative Gastronomie- und Kulturprojekte florieren und Investoren sogar eine futuristische Konzert-Festhalle auf dem Land errichtet haben – ein ländliches Leuchtturm-Projekt mit Strahlkraft. Solche Investitionen zeigen, dass die Provinz als Wirtschaftsstandort an Profil gewinnt. Kreative Gründer entdecken das Land für sich, vom Land-Tech-Start-up bis zum lokalen Co-Working-Café. Die progressive Provinz bietet Raum für experimentelle Geschäftsmodelle, die in der Großstadt so nicht möglich wären, sei es ein Hofladen mit digitaler Vermarktung, ein Handwerksbetrieb mit 3D-Druck oder ein Tourismuskonzept abseits des Mainstreams.
Nicht zuletzt setzt die progressive Provinz auf Gemeinwohl-Ökonomie und resiliente lokale Kreisläufe. Regionalvermarktungs-Initiativen, Genossenschaften und Kooperationen zwischen Landwirten, Verbrauchern und Kommunen stärken die Unabhängigkeit (6). Ein Beispiel hierfür ist die »Zukunftsregion Zwickau« in Sachsen, ein Verbund von 18 Kommunen, der unter dem Motto „Gemeinsam Zukunft gestalten“ regionale Produkte vermarktet, lokale Betriebe vernetzt und gemeinsame Projekte fördert (5). Solche regionalen Allianzen steigern die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft auch abseits der Ballungszentren.
Technologische Entwicklungen als Enabler des Wandels
Digitales Arbeiten in ländlicher Idylle (Rakotzbrücke in Sachsen): Die Verbreitung von Breitband und Remote-Work-Technologien ermöglicht es immer mehr Menschen, von überall aus zu arbeiten.
Ein Haupttreiber der progressiven Provinz ist die Digitalisierung. Moderne Kommunikationstechnologie hat Distanzen relativiert: Mit flächendeckendem Breitband-Internet lässt es sich in jedem Dorf oder jeder Kleinstadt produktiv arbeiten. Homeoffice und Videokonferenzen machen tägliches Pendeln überflüssig – das eröffnet ländlichen Regionen völlig neue Perspektiven (8). Schon heute kann sich jeder zweite Berufstätige vorstellen, dauerhaft von zu Hause zu arbeiten (7). Dieser Trend zum ortsunabhängigen Arbeiten wurde durch die Pandemie noch beschleunigt. Corona hat vielen vor Augen geführt, dass Großstadtleben auch Nachteile birgt (Enge, hohe Mieten), während das Land mit Raum und Ruhe punkten kann (2). Remote-Work macht es möglich: Plötzlich scheinen Dörfer als Wohnort greifbar nahe – mit dem Versprechen von mehr Lebensqualität und Natur.
Damit die Provinz diesen Vorteil nutzen kann, wird in vielen Regionen massiv in die digitale Infrastruktur investiert. Breitband-Ausbau und 5G-Mobilfunk stehen weit oben auf der Agenda, oft unterstützt durch Bund-Länder-Programme. Digitale Schulen, öffentliche WLAN-Hotspots auf dem Marktplatz oder E-Government-Angebote der Kommunalverwaltung gehören zur technischen Aufrüstung im ländlichen Raum. Die Daseinsvorsorge per Digitalisierung ist ein großes Thema: Telemedizin bringt den Hausarzt per Videosprechstunde zurück ins Dorf, wo Praxen fehlen. Digitale Mobilitätsplattformen vermitteln Mitfahrgelegenheiten oder Rufbusse auf dem Land. Und E-Learning-Angebote ermöglichen Aus- und Weiterbildung, ohne dafür in die nächste Großstadt fahren zu müssen.
Wichtig ist, dass Technologie als Mittel zum Zweck verstanden wird – nämlich um die Lebensqualität vor Ort zu sichern und auszubauen (8). So entstehen sogenannte Smart Villages, in denen IoT-Anwendungen und lokale Apps ganz konkrete Probleme lösen: Sei es die smarte Steuerung der Energieversorgung, Tele-Betreuung für Senioren oder ein Online-Marktplatz für regionale Produkte. Die EU hat das Konzept »Smart Villages« aufgegriffen, um digitale und soziale Innovationen im ländlichen Raum voranzubringen (9). Hier geht es etwa darum, Gesundheitsversorgung, Bildung oder Nahverkehr auf dem Land durch digitale Tools effizienter und nachhaltiger zu gestalten. Solche Technologien entfalten aber nur in Kombination mit engagierten Menschen ihre Wirkung. Wie das Zukunftsinstitut betont: Das Netz löst Verbindungsfragen, aber keine Beziehungsfragen. Mit anderen Worten – Internet allein reicht nicht, es braucht auch den Willen der Bewohner, Neues auszuprobieren. Wo beides zusammentrifft – High-Tech und eine offene Dorfgemeinschaft – entwickelt sich die Provinz rasant weiter.
Konkrete Manifestationen in Deutschland: Regionen und Projekte als Vorreiter
Zahlreiche Beispiele in Deutschland zeigen, wie die Idee der progressiven Provinz bereits gelebt wird. Einige Pionierregionen und Projekte verdeutlichen die Bandbreite des Trends:
Rheingau Musik Festival (Hessen): Ein herausragendes Beispiel für die Umsetzung des Megatrends »Progressive Provinz« im Rheingau. Seit seiner Gründung im Jahr 1987 hat es sich zu einem der größten Musikfestivals Europas entwickelt und verwandelt die ländliche Region jährlich in eine Bühne für über 170 Konzerte.
Verbindung von Tradition und Innovation – Das Festival nutzt historische Spielstätten wie das Kloster Eberbach, Schloss Johannisberg und Schloss Vollrads, um ein vielfältiges Programm anzubieten, das von klassischer Musik über Jazz bis hin zu Weltmusik reicht. Diese Kombination aus kulturellem Erbe und musikalischer Vielfalt zieht jährlich rund 120.000 Besucher an und belebt die Region sowohl kulturell als auch wirtschaftlich.
Foto: Autorisiertes Pressefoto des Rheingau-Musik-Festivals 2025; Kreuzgangkonzert im Kloster Eberbach, (c) Borggreve Förderung von Nachwuchskünstlern und Bildung – Ein zentrales Anliegen des Festivals ist die Förderung junger Talente. Mit Formaten wie »Next Generation« und dem »Rheingau Music LAB« bietet es Nachwuchsmusikern Plattformen zur Präsentation und Weiterbildung. Zudem werden Bildungsprojekte initiiert, die Jugendlichen Einblicke in die Organisation und Durchführung von Konzerten ermöglichen. Stärkung der regionalen Identität – Das Festival verbindet kulturelles Erbe mit musikalischer Vielfalt – von Klassik über Jazz bis Weltmusik – und belebt so die Region auf einzigartige Weise. Die enge Verzahnung mit regionalen Weingütern und Betrieben stärkt nicht nur die Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Heimat, sondern macht den Rheingau zu einem Vorreiter für kulturell integrierte Regionalentwicklung im Sinne der progressiven Provinz. Hier wird erlebbar, wie ein ländlicher Raum durch Offenheit, Qualität und Identitätsbewusstsein zu einem kulturellen Hotspot mit internationalem Renommee wird.

Wacken (Schleswig-Holstein): Das kleine Dorf Wacken mit 1.800 Einwohnern ist dank des jährlich stattfindenden Wacken Open Air zum Mekka der Metal-Fans geworden. Was einst als Konflikt zwischen »lauter Musik und ruhebedürftigen Alten« begann, hat sich in eine Erfolgsgeschichte verwandelt: Heute heißen die meisten Dorfbewohner die Zehntausenden Festivalgäste willkommen. Sogar Selfies von grauhaarigen Omis mit langhaarigen Metalheads sind zur Kultpostkarte geworden (5). Wacken profitiert wirtschaftlich und kulturell – das Festival stärkt den Zusammenhalt vor Ort und hat dem Ort eine einzigartige Identität verliehen.
Gersbach (Schwarzwald, Baden-Württemberg): Das Dorf Gersbach (ca. 700 Einwohner) wurde beim Bundeswettbewerb »Unser Dorf hat Zukunft« mit nahezu voller Punktzahl ausgezeichnet und gewann kurz darauf sogar Gold auf europäischer Ebene (5). Gersbach hat mit zahlreichen Projekten auf die Zukunft gesetzt: Sanfter Tourismus statt Massentourismus, aktive Vereinsarbeit und Bürgerbeteiligung, Erhalt der Landschaft und innovative Ideen wie ein Energielehrpfad. Dieses Engagement der Bürger wurde belohnt – Gersbach gilt als Modell für eine vitales, lebenswertes Dorf im 21. Jahrhundert.
Zukunftsregion Zwickau (Sachsen): Im sächsischen Umland haben sich 18 Kommunen mit zusammen rund 122.000 Einwohnern zur »Zukunftsregion Zwickau« zusammengeschlossen. Unter dem Leitgedanken »Gemeinsam Zukunft gestalten« kooperieren Städte und Dörfer hier über Verwaltungsgrenzen hinweg. Gemeinsam betreibt man z.B. eine Online-Plattform, über die regionale Erzeuger ihre Produkte vermarkten können, man organisiert Fachkräftemarketing und teilt sich Beratungskapazitäten. Diese Art von interkommunaler Kooperation macht die Region attraktiv für Unternehmen und Einwohner – ein Best-Practice-Beispiel für regionales Denken über lokale Kirchtürme hinaus (6).
Dötlingen (Niedersachsen): Die Gemeinde Dötlingen mit ihren 6.000 Einwohnern im Oldenburger Land knüpft an ihre historische Vergangenheit als Künstlerkolonie an. Vor über 100 Jahren verbrachten Bremer Bohémiens ihre Sommerfrische hier, nun soll Dötlingen wieder zu einem lebendigen Künstlerdorf werden. Unter dem Motto »kein Museumsdorf, sondern eine vitale Gemeinde« fördert der Ort Kunst und Kultur: Alte Bauernhäuser und Scheunen wurden saniert und dienen heute als Ateliers, Galerieräume oder Treffpunkte für Kreative. In Kooperation mit Hochschulen nutzen junge Künstler die malerische Umgebung als Inspirations- und Ausstellungsort. Dötlingen zeigt, wie kulturelles Erbe und kreative Zukunft miteinander verbunden werden können, um eine Gemeinde neu zu beleben.

Digitale Dörfer und KoDörfer: Mehrere Initiativen experimentieren mit neuen Wohn- und Arbeitsformen auf dem Land. So laufen in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen Pilotprojekte für sogenannte KoDörfer – gemeinschaftlich geplante Siedlungen aus vielen kleinen Holzhäusern, Co-Working-Spaces und großen Gemeinschaftsflächen (10). Diese Genossenschaftsprojekte, etwa in Wiesenburg (Brandenburg) oder Erndtebrück (NRW), wollen das »Beste aus Stadt und Land« verbinden: die Infrastruktur fürs digitale Arbeiten und eine aktive Community einerseits, viel Grün und Freiraum andererseits. Ähnlich setzt das Programm »Summer of Pioneers« darauf, Stadtmenschen Landluft schnuppern zu lassen: Dabei ziehen Digitalarbeiter:innen für sechs Monate auf Probe in Kleinstädte wie Wittenberge oder Homberg (Efze), bekommen vergünstigte Wohnungen und Coworking-Plätze – und viele bleiben sogar dauerhaft (11). Solche Projekte bringen frischen Wind in strukturschwache Orte und schaffen neue Netzwerke zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen.
Chemnitz/Erzgebirge (Sachsen): Im Vorfeld des Europäischen Kulturhauptstadtjahres 2025 entsteht rund um Chemnitz eine Reihe von »Makerhubs« in der Region Erzgebirge (1). Acht kleine Städte und Dörfer richten Werkstätten und Begegnungsorte ein, wo Handwerker:innen, Kreative, Unternehmer:innen und junge Talente zusammenkommen, um gemeinsam Innovationen zu schaffen. Begleitet wird dies von Initiativen wie »Kreatives Erzgebirge«, einem Netzwerk der Kultur- und Kreativwirtschaft, und der »Denkstatt Erzgebirge«, die traditionelles Handwerk mit neuen Ideen verknüpft. Diese Region profiliert sich als Modell einer progressiven Provinz, in der traditionelle Industrie, Kreativszene und Verwaltung an einem Strang ziehen, um dem Strukturwandel positiv zu begegnen. Das Erzgebirge zeigt exemplarisch, wie mit partnerschaftlicher Zusammenarbeit – von Kommune über Wirtschaft bis Zivilgesellschaft – eine ganze Region neu belebt werden kann (1)

Diese Beispiele – und viele weitere ließen sich anführen – machen deutlich, dass der Trend der progressiven Provinz in Deutschland bereits Realität ist. Sei es durch kulturelle Events, soziale Initiativen oder digitale Innovationen: Überall dort, wo engagierte Menschen die Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts mit der Lebensqualität des Ländlichen verbinden, wird Zukunft auf dem Land gemacht (1).
Internationale Parallelen und vergleichbare Entwicklungen
Die Wiederentdeckung des Landlebens ist kein rein deutsches Phänomen, sondern zeichnet sich in vielen Ländern ab. International spricht man von einer ländlichen Renaissance, begünstigt durch Remote Work und den Wunsch nach mehr Lebensqualität außerhalb der Metropolen. In den USA etwa wurde der Begriff »Zoom Towns« geprägt für Kleinstädte, die einen Boom durch zugezogene Homeoffice-Arbeitende erleben (12).
Während der COVID-Pandemie kehrten zahlreiche Menschen Großstädten wie New York oder San Francisco den Rücken, um in kleineren Gemeinden mit niedrigerem Kostenniveau, mehr Platz und Naturnähe zu leben. Um diese hochqualifizierten Neuzugänge zu gewinnen, überbieten sich manche Orte sogar mit finanziellen Anreizen – in den USA bieten einzelne Städte und Bundesstaaten Remote-Arbeitenden Umzugsprämien von mehreren tausend Dollar (13). Eine Studie ergab, dass 2020 über ein Fünftel der Amerikaner entweder selbst umgezogen ist oder jemanden kennt, der aufgrund der neuen Umstände ins Umland zog (13). Vor allem Bessergebildete mit höheren Einkommen – also die typischen Knowledge-Worker – machten von dieser neuen Freiheit Gebrauch. Dieses Muster ähnelt den deutschen Erfahrungen, wonach es vor allem die junge, mobile Mittelschicht ist, die aufs Land zieht (3).
Auch in Europa gibt es vergleichbare Trends. Die Europäische Union fördert seit einigen Jahren das Konzept der »Smart Villages«, um ländliche Gemeinden mittels Digitalisierung attraktiver und zukunftsfähiger zu machen (9). In vielen Mitgliedsländern entstehen Modellprojekte: zum Beispiel Fernarbeits-Hubs in Irland, wo ehemalige Bankgebäude in Co-Working-Spaces für Dorfbevölkerung und Pendel-Aussteiger umgewandelt wurden, oder digitale Dorfplattformen in Frankreich, über die man lokale Dienste bündeln kann. Einige Staaten greifen sogar zu deutlichen Anreizen: Japan etwa kämpft gegen die Landflucht aus Tokio, indem es Familien umgerechnet rund 7.500 € pro Kind bietet, wenn sie aus der Hauptstadtregion in ländliche Präfekturen umsiedeln (14). Das Ziel: in den nächsten Jahren Zehntausende Städter aufs Land zu bringen und dort dem Bevölkerungsschwund entgegenzuwirken. Italien ging einen kreativen Weg, um entlegene Dörfer wiederzubeleben – so bot z.B. das 115-Einwohner-Dorf Santo Stefano di Sessanio eine Einzugsprämie von bis zu 8.000 € pro Jahr für Neuankömmlinge und symbolisch günstige Mieten, um junge Unternehmer anzulocken (14). Portugal und Griechenland haben ähnliche Programme gestartet, um digitalen Nomaden und Rückkehrern das Landleben schmackhaft zu machen.
Diese internationalen Beispiele zeigen Parallelen zur Progressiven Provinz: Überall geht es darum, Stadt und Land neu auszubalancieren. Während das 20. Jahrhundert vom Zug in die Städte geprägt war, erlebt das 21. Jahrhundert einen Aufbruch ins Ländliche – ermöglicht durch Technik und getrieben von dem Wunsch nach einem nachhaltigeren, menschlicheren Lebensumfeld. Ob man es Rurbanisierung, Rural Revival oder Progressive Province nennt, das Grundmuster ist vergleichbar: Wo digitale Konnektivität, gemeinschaftlicher Geist und frische Ideen zusammenkommen, wird das Land zum Ort der Zukunft. Die Provinz ist nicht mehr Peripherie, sondern wird zur Bühne neuer Möglichkeiten – in Deutschland genauso wie weltweit.
Fazit: Der Megatrend »Progressive Provinz« steht für eine optimistische Vision des Landlebens im 21. Jahrhundert. Er umfasst gesellschaftlichen Wandel (hin zu mehr Gemeinschaft und Offenheit), kulturelle Blüte fernab der Großstädte, wirtschaftliche Neuentfaltung in regionalen Netzwerken und den cleveren Einsatz moderner Technologien. Deutschland erlebt bereits an vielen Orten, wie aus Dörfern Zukunftsdörfer und aus Regionen Zukunftsregionen werden. Diese Entwicklung wird begleitet von ähnlichen Bewegungen rund um den Globus. Die kommende Zeit könnte somit ein neues Gleichgewicht zwischen Stadt und Land bringen – ein Zeitalter, in dem Provinz und Fortschritt kein Widerspruch mehr sind, sondern Hand in Hand gehen (6). Sie werden auf diesem Weg ganz automatisch zu Powerregionen.
Quellen:
(5) horx.com
(6) powerregionen.de
(7) kopo.de
(9) ec.europa.eu
(10) neulandia.de
(12) twingate.com
(14) weforum.org
Weiterführende Quellen und Literatur
Zukunftsinstitut
Zukunftsinstitut (2024): Megatrend-Dokumentation 2025 – Kapitel: »Progressive Provinz« www.zukunftsinstitut.de
Daniel Dettling: Progressive Provinz – Wie der ländliche Raum zur Zukunftsregion wird (Studie 2023)
Fachmedien und Analysen
Bertelsmann Stiftung (2022): Smart Country – Wie ländliche Regionen vom digitalen Wandel profitieren können
Tagesspiegel Background (2023): Artikelserie »Die Zukunft des Ländlichen«
Kommunalpolitische Blätter: Dorfentwicklung, Daseinsvorsorge und Digitalisierung auf dem Land
Beispiele & Projekte
Rheingau Musik Festival: www.rheingau-musik-festival.de
Zukunftsregion Zwickau: www.zukunftsregion-zwickau.de
Digitale Dörfer / KoDörfer: www.kodoerfer.de
Summer of Pioneers: www.pioneers.space
Umwelt Zukunft Rheingau e.V.: www.umwelt-zukunft-rheingau.de
Internationale Perspektiven
World Economic Forum (2021–2023): Reports zur „rural renaissance“ und „Zoom Town“-Bewegung
Europäische Kommission: Smart Villages Initiative – europa.eu
Autorin: Katja Peteratzinger, Int. Dipl.-Betriebswirtin (FH) und treibende Kraft hinter der Initiative Powerregionen – Weil du deine Heimat liebst.
Kontakt: Hof Gnadenthal 3, 65597 Hünfelden, Tel.: (06438) 9 10 97, info@powerregionen.de
Besuchen Sie gerne den innovativen ki-gestützten Geschenkefinder der Powerregionen-Initivative hier: https://geschenkefinder.powerregionen.net/.